Lebensphasen von Kruhl Helene Dorothea: Wohnort: | 1920 in Flensburg, Neumarkt 10. |
Notizen zu Kruhl Helene Dorothea:
Brief der Enkeltochter Brigitte 1985 an ihre Oma Helene Andresen geb. Kruhl zum 85. Geburtstag:Meine liebe Oma,
eigentlich bist Du ja "unsere" Oma, aber heute will ich Dich einmal ganz für mich allein beanspruchen. Wenn Dich diese Zeilen erreichen, bist Du 85 Jahre alt geworden, mehr als doppelt so alt wie ich. 85 Jahre sind fast ein volles Jahrhundert. Wie viel erlebt und erleidet man in so einer langen Zeit! Da ist einmal Dein ganz persönliches Leben, Deine Kindheit am Hafen, über die Du so interessante und lebendige Dinge aufgeschrieben hast, dann ist da Deine Ehe mit Opa, die Zeit als Deine Kinder heranwuchsen und selbst wieder Eltern wurden. Ja, und mit Deinem ersten Enkelkind - mit mir nämlich - beginnt Dein Großmutter-Dasein. Wir beide kennen uns nun fast 39 Jahre. Sicher kannst Du Dich noch gut an die Zeit erinnern, als Mutti und Tante Elsa mit ihren dicken Bäuchen durch die Gegend stolzierten. Waren eigentlich die zukünftigen Väter so aufgeregt, wie man ihnen das im Allgemeinen so nachsagt! Für heutige Verhältnisse ist es kaum vorstellbar, daß ich zu Hause, das heißt in Deiner Wohnung geboren wurde. War das nicht ein ziemlicher Schweinkram?
Wenn ich an meine Kindheit denke, haben Opa und Du einen ganz festen Platz in meinen Erinnerungen. Unsere Strandpartien nach Drei auf Holnis werde ich in meinem Leben nicht vergessen. War das schön! Für Dich hatten wir immer einen bequemen Strandstuhl dabei, von dem aus Du zu gegebener Zeit dann den Kaffee ausschenktest, Kuchen oder Brote verteiltest. Abends bzw. am späten Nachmittag kamen Opa und Onkel Christian. Mit Onkel Christian konnte man gut herumtoben und allerhand Blödsinn machen. Weißt Du noch daß wir oft nach so einem Strandtag unten beim Milchmann Eis geholt haben? Oma Kruhl fand, daß dies nicht nötig tat, aber Opa hatte, Gott sei Dank, ein gutes Durchsetzungsvermögen ihr gegenüber, und so kamen wir immer zu unserem leckeren Eis.
An Oma Kruhl und Tante Lene kann ich mich noch sehr gut erinnern. Wie oft haben wir über Tante Lene gelacht, aber wir mochten sie sehr. Jedes Jahr zur Apfelkuchen-Zeit hatten wir unseren Spaß mit ihr. Ich habe vergessen, wie viele Apfelkuchen sie verdrücken konnte, aber es müssen ungeheure Mengen gewesen sein - und dazu ihr Zuckerverbrauch! Mit der Zuckerdose stand sie sowieso auf "Du" und wie viele Tricks haben wir uns ausgedacht, um sie des Naschens zu überführen. Ich glaube, wir waren nicht immer nett zu ihr, aber ich hoffe, daß sie wußte, wie gern wir alle sie hatten.
Deine Mutter, unsere Oma Kruhl, war dagegen ein ganz anderes Kaliber. Mich hat sie oft damit genervt, daß sie jede halbe Stunde - abwechselnd auf UKW und Mittelwelle - Nachrichten im Radio hören mußte - und das in aller Herrgottsfrühe, wenn ich noch schlafen wollte. Am meisten beeindruckt hat mich Oma Kruhl Fähigkeit, mir meine Warzen wegzuzaubern. Weißt Du noch, wie Du deswegen mit mir von Pontius zu Pilatus gelaufen bist, von einem Arzt zum anderen, ohne daß die mir helfen konnten. Aber Oma Kruhl konnte es! Sie wollte mich damals in ihre Kunst einweisen, aber ich Dösbattel wollte nicht. Und wie gut könnte ich heute diese "Hexerei" gebrauchen, denn mich plagt wieder eine Warze unter dem Fuß.
Aber nun wieder zurück zu Dir und Opa und der für mich so schönen Flensburger Zeit. Ebenso viele Tage in Drei (Holnis), gehören für mich zu den besten Erinnerungen die Weihnachtsfeste, die wir alle zusammen verlebt haben. Ich erinnere noch, daß sich Mutti und Papi wegen Weihnachten mal fürchterlich gestritten haben, denn Papi wollte das Fest unbedingt in Hannover im Kreise seiner kleinen Familie verbringen. Als ich das hörte, war ich ganz starr vor Schreck, denn ein Weihnachten ohne Oma und Opa, ohne Oma Kruh1 und Tante Lene konnte ich mir gar nicht vorstellen. Glücklicherweise setzte sich Papi dann auch nicht durch! Das Zeremoniell lief Weihnachten immer gleich ab: Nachmittags guckte Onkel Christian mit seinen beiden Töchtern vorbei, nach dem Abendessen verschwanden Iris, Volker und ich in der Küche, um abzuwaschen, um Lieder und Gedichte noch einmal zu proben und um uns so richtig einzustimmen auf die aufregende Bescherung. Wenn wir fast fertig mit dem Abwasch waren, klingelte einer von Euch draußen an der Tür. Das war das Zeichen, daß der Weihnachtsmann seine Geschenke abgeliefert hatte und wir nun den festlich geschmückten Raum betreten konnten. In den ersten Jahren kam auch noch ein "richtiger" Weihnachtsmann. Ich habe nie herausgefunden, wer ihn gespielt hat. Weißt Du das noch? Eines meiner schönsten Weihnachtsgeschenke war eine Armbanduhr, die ich von Euch bekam. Ich weiß heute noch, wie stolz und aufgeregt ich war, als ich die Uhr entdeckte. Während der Weihnachtsferien schlief ich immer im Eßzimmer auf der Couch. Und so konnte ich mich nachts, wenn Ihr alle schlieft, auf leisen Sohlen zum Tannenbaum schleichen und einige der Schokoladenkringel stibitzen. Ich weiß nicht, ob Du es bemerkt hast, auf jeden Fall warst Du immer so nett, für Nachschub zu sorgen.
Du mußt viel Arbeit gehabt haben, wenn wir mit fünf Mann hoch, bei Euch einfielen. Aber darüber habe ich mir nie groß Gedanken gemacht, wir haben es einfach genossen, bei Euch eine unbeschwerte Zeit zu verleben. Und zu den Weihnachtsferien gehörten ja nicht nur die Weihnachtstage, sondern auch Silvester mit Rummelpott und Knallerei. Opa gab immer viel Geld für Raketen und Kanonenschläge aus, und ich wurde schon lange vor Silvester von den Kindern in der Schleswiger Straße gefragt: "Knallt Dein Opa Silvester wieder?" Die Kinder beneideten mich sehr, und ich habe das so richtig genossen. Du warst, so glaube ich, nicht besonders erfreut darüber, daß so viel Geld in die Luft gejagt wurde.
Liebe Oma, viele Erinnerungen an meine schöne Kindheit bei Euch sind nur noch Bruchstücke, einzelne Situationen, die mir aber noch ganz deutlich vor Augen sind: Weißt Du noch, daß Du zusammen mit Deinem Mann mal eine Abmagerungskur versucht hast? Ihr habt jeden Morgen vor dem Frühstück eine halbe Pampelmuse gegessen. Die Dinger waren Euch aber wohl zu sauer, denn Ihr habt immer noch kräftig Zucker darüber gestreut, und so waren Eure Bemühungen auch nicht von Erfolg gekrönt. Ich erinnere auch genau noch unseren Garten mit der Laube, den Hühnern, der Schaukel, der Regentonne, den Spargelbeeten und den Johannisbeersträuchern. Und Rhabarber muß es in Unmengen gegeben haben, denn die Marmelade, die Du daraus gemacht hast, ist uns schon manchmal zu den Ohren wieder herausgekommen. Dafür sind mir aber andere Leckereien, die Du gekocht hast, noch in bester Erinnerung: Sirup und Klöße, Brotpudding, Schnüsch, Speck in de Pann, Birnen Bohnen und Speck und viele andere Gerichte. Nur mit Schwarzsauer konnte ich mich nie so richtig anfreunden. Von den Apfelkuchen habe ich ja schon geschrieben. Dazu gehörte die Pflaumensuppe. Und jetzt kann ich Dir ja gestehen, daß ich mal einen fürchterlichen Verdacht gegen Dich hatte: Im Speiseschrank entdeckte ich mal eine leere Flasche Martini. Im ersten Moment habe ich wirklich geglaubt, daß Du heimlich trinkst. Ich habe niemanden meine Entdeckung verraten, und eines Tages erzähltest Du so nebenbei, daß du dieses Zeug für die Pflaumensuppe brauchst. Ich war richtig ein bißchen enttäuscht. Bei größeren Festlichkeiten kam früher eine Kochfrau ins Haus. Das war immer sehr aufregend. Die Tafel reichte dann vom Wohnzimmer bis durch zum Eßzimmer, es wurde viel gegessen, gelacht, und wenn wir Enkelkinder nicht gerade unsere eigenen Räubergeschichten im Schlafzimmer erzählten, hörten wir mit großen Ohren Euren Gesprächen zu.
Liebe Oma, stunden- bzw. seitenlang könnte ich noch über die eine oder andere Begebenheit schreiben, über mein erstes Schuljahr bei Fräulein Linning, sogar an Tante Irmgard aus dem Kindergarten erinnere ich mich noch. Aber auf Vollständigkeit kommt es nicht an, sondern ich möchte Dir nur sagen, daß ich sehr gern an meine Kindheit zurückdenke - und das habe ich Dir und Opa zu verdanken. Der Tod Opas bedeutete für uns alle, besonders aber für Dich einen tiefen Einschnitt im Leben. Mir kommt es so vor, als ob es von da an immer nur noch bergab ging. Die Ehe von Mutti und Papi ging in die Brüche, wir Kinder wurden getrennt, dann Muttis schwere Krankheit, der Tod von Onkel Christian, schließlich Muttis Tod. In all diesem Chaos gab es für mich nur einen ruhenden Pol - das warst Du. Du warst immer zur Stelle, wenn Not an Mann war, auf Dich konnte man sich hundertprozentig verlassen, und was mir eigentlich erst im Laufe der letzten Jahre so richtig bewußt geworden ist: Du hast nie gefordert, nie uns ein schlechtes Gewissen gemacht, wirst nie neidisch, hast Dich nie in den Mittelpunkt gedrängt. Und nun will endlich Deinen 85. Geburtstag als Gelegenheit nehmen, um Dir für alles, was Du für mich und für Iris und Volker und für Mutti getan hast, von ganzem Herzen zu danken.
Liebe Oma, nicht nur Dein persönliches Leben war sehr bewegt, sondern auch die Zeit, die Du erlebt hast, gehört wohl zu den aufregendsten Jahrhunderten. Du hast noch das Kaiserreich kennengelernt, den ersten Weltkrieg miterlebt, die Weimarer Republik, das Hitler-Deutschland, den zweiten Weltkrieg und nun das geteilte Deutschland. Ich habe mal in Büchern nachgeschlagen, was so in der Welt los war, als Du noch Kind warst, und neben der großen Politik" bin ich dabei auf einige interessante Dinge gestoßen: So feierte zum Beispiel in Deinem Geburtsjahr die Mutter des deutschen Kaisers ihren 6o. Geburtstag, Graf Zeppelin stieg zum ersten Mal und erfolgreich mit seinem Luftschiff auf, und in Paris wurde die große Weltausstellung eröffnet. Als Du drei Jahre alt warst, kaufte Kaiser Wilhelm drei Daimler-Wagen und machte damit das Auto gesellschaftsfähig. Außerdem fand 1903 ein erster Schönheitswettbewerb deutscher Männer statt. Die Gestalten auf dem alten Foto sehen zum Totlachen aus. Ja, und im selben Jahr wurde der erste deutsche Automobilverein gegründet, der berühmte ADAC. Erinnerst Du Dich noch an den Hauptmann von Köpenick? Als Du sechs Jahre alt warst, sorgte der nämlich für weltweites Gelächter. Dieses Jahr wurde allerdings auch überschattet durch eine Katastrophe: San Franzisko wurde durch ein Erdbeben fast völlig zerstört. 1907 - Du warst sicher schon ein Schulmädchen - trat die berühmte russische Ballerina Anna Pawlowa zum ersten Mal in Deutschland auf. Auch die Mode spielte in diesem Jahr eine große Rolle, denn das Meyersche Konversationslexikon bemerkt 1907 sehr mißbilligend: "Ohne Rücksicht auf die Gebote des Anstandes, der Gesundheit und der Bequemlichkeit herrscht hier ein ständiger Wechsel in Formen, Stoffen und Farben. Ich glaube, es war die Zeit der Schnürleibchen. Hast Du so etwas auch noch getragen? In Deinem achten Lebensjahr wurde das erste deutsche Kaufhaus eröffnet, das Wertheim-Kaufhaus in Berlin, und es fand in diesem Jahr ein spektakuläres Autorennen "rund um die Erde" von New York nach Paris statt. Ein Amerikaner siegte, mehr konnte ich leider über dieses Ereignis nicht herausfinden. 1910 besuchte übrigens der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt Deutschland, aber das wird Dich damals wohl nicht sehr interessiert haben. Sicher erinnerst Du Dich noch an die große Schiffskatastrophe von 1912, bei der die "Titanic" auf ihrer Jungfernfahrt
mit einem Eisberg zusammenstieß und mit über 15oo Menschen sank. Dieses Ereignis hat Euch sicher genauso bewegt wie die Tatsache, daß Scott den Südpol, erreichte und erfahren mußte, daß Amundsen ihm zuvorgekommen war. Als Du 13 Jahre alt warst feierte Kaiser Wilhelm sein 25jähriges Regierungsjubiläum. Wahrscheinlich habt Ihr in der Schule kräftig mitgefeiert und viele Lobreden auf "Euren" hohen Herrn gehalten. Irgendwo habe ich vor kurzem gelesen, daß der gute Kaiser homosexuelle Neigungen hatte. Man gut, daß Ihr damals keine Ahnung davon hattet, denn sonst wäre ihm wohl nicht nur ein Zacken aus der Krone gebrochen. Wichtiger als dieses Dienstjubiläum ist aber sicher eine Meldung aus Amerika: Henry Ford führt die Serienproduktion von Autos auf dem Fließband ein. Und noch ein interessanter Hinweis aus dem Jahr 1913: Die "Berliner Morgenpost" kostet im Wochenabonnement 10 Pfennige! Das waren noch Zeiten!
Liebe Oma, am Ende Deiner Kindheit steht der Ausbruch des ersten Weltkrieges. 1914 unternimmt der Kaiser noch mit seiner Yacht "Hohenzollern" eine Nordlandfahrt, um danach dann gut erholt und ausgeruht mit dem Schlachtengetümmel zu beginnen. Pfui Teufel!
Zum Abschluß will ich noch ein Datum anfügen: In Deinem 18.Lebensjahr macht die erste deutsche Republik Euch Frauen ein Geschenk. Sie schenkt Euch nämlich das Wahlrecht. Zu dieser Zeit warst Du wahrscheinlich gerade verliebt und mehr an Opa als am Wahlrecht interessiert.
Liebe Oma, so weit ein paar herausgepickte Ereignisse aus Deinen jungen Jahren. Und jetzt will ich wieder von der jungen hübschen Helene zur alten, aber immer noch gut aussehenden Helene zurückkommen. Liebe Oma, ich bin ganz traurig, daß ich an Deinem 85. Geburtstag nicht bei Dir sein kann, aber der Krankenhausaufenthalt hat doch länger als erwartet gedauert, und ich bin noch so wacklig auf den Beinen, daß ich die Fahrt nach Flensburg nicht unternehmen kann. So mußt Du Dich mit Horst begnügen, der Dir von mir einen ganz dicken Geburtstagskuß geben soll. Sobald ich mich besser fühle, komme ich für ein paar Tage zu Dir, und dann machen wir uns eine schöne Zeit. Da wir dann auch ein Auto haben, können wir bei schönem Wetter auch ein bißchen in der Gegend herumkutschieren. Du hast sicher auch Lust, mal aus Deinen vier Wänden herauszukommen und Frühlingsluft zu schnuppern.
Liebe Oma, das, was wir alle Dir zum Geburtstag wünschen, nämlich Gesundheit und Zufriedenheit, kann man leider nicht in Geschenkpapier wickeln und überreichen. Und das, was Horst und ich Dir als "handfestes" Geschenk überreichen wollten, ist wegen der blöden Operation nicht fertiggeworden. So wirst Du es mit Verspätung erhalten, aber ich hoffe, daß Du trotzdem noch viel Freude daran haben wirst. Liebe Oma, ich wünsche Dir einen ganz schönen und harmonischen Geburtstag mit einer Feier, die allen gut im Gedächtnis bleibt. Mit meinen Gedanken werde ich bei Dir sein.
Viele liebe Grüße von
Deiner Brigitte
Helene Andresen geb. Kruhl * 1900Lebenslauf der KindheitGeboren wurde ich in der "Fule Strat". Ja, so nannte man wenigstens um 1900 die Johannisstraße. Ich weiß nicht, wie die die Straße zu diesem Namen gekommen ist. Wenn es auf die Bewohner zurückzuführen ist so traf das "Faule" gewiß nicht zu auf das Haus Nr. 10. Denn von Vater und Mutter weiß ich, dass die Mitbewohner, ein Maler- und ein Schmiedemeister, sehr fleißig waren und auch meine Eltern sind durch Fleiß und Sparsamkeit gut vorangekommen.
Einen Tag nach meiner Geburt wurde bei dem Malermeister auch ein Kind geboren. Wir beide hatten nun das große Glück, einen 12 Jahre älteren Bruder zu haben, die uns, wenigstens solange wir im Kinderwagen lagen, immer gut betreut haben. Otto und Peter kamen sich als Kindermädchen scheinbar ganz wichtig vor. Eines guten Tages war in den "Flensburger Nachrichten" die Frage zu lesen. "Wer sind wohl die beiden männlichen Kindermädchen von der Johannisstraße?" Nach Ausagen von Mutter und Bruder habe ich Flensburg und Umgebung schon als Säugling kennengelernt.
Nach einigen Monaten zogen wir nach der Schiffbrücke, wo meine Eltern eine Gastwirtschaft mit Fremdenzimmer kauften. Hier, unmittelbar am Wasser, habe ich die ersten und wohl auch die schönsten Jahre meiner Kindheit verbracht.
Von Sorgen und Nöten der Eltern habe ich nie etwas gemerkt. Wir Kinder konnten uns frei bewegen und trotzdem von Vater und Mutter strenge gehalten und gut geführt.
Viele von den früheren Eindrücken und Erlebnissen sind heute noch ganz klar in meiner Erinnerung.
Peter, der Älteste meiner Brüder, hatte inzwischen eine Lehrstelle und nach der Lehrzeit ging er von zu Hause fort. Paul, der zweite Bruder, war den ganzen Tag, außer in der Schulzeit, nur auf dem Wasser zu finden. Magda, meine ältere Schwester, war ruhig und still und immer artig. Und dann kam ich.
Es gehörten zu unserem damaligen Haushalt noch zwei Hausgehilfinnen. Anna und Marie sind unserem Hause wohl bald acht Jahre treu geblieben..
Ja, mit der Anna und später auch mit ihrem Mann, verkehren wir heute noch freundschaftlich. Wir vier Kinderhaben vor allen Dingen gerade Anna, in den Jahren wo Vater und Mutter nicht immer so viel Zeit für uns hatten, oft unser kleines Herz ausgeschüttet und ich muss sagen, sie hatte immer Verständnis für unsere Sorgen und nöte. Wenn wir etwas ausgefressen hatten und als Strafe hungrig ins Bett mussten, was Anna es, die uns heimlich Brot zusteckte.
Wenn wir uns beim Spielen, oder Paul beim Rudern oder Segeln, verspätet hatten, hat Anna uns oft durch die Hintertür ins Haus gelassen. Dann ging es ganz leise die Treppe hinauf, schnell gewaschen und ins Bett. Wenn Mutter dann kontrollierte war alles in bester Ordnung.
Wir haben Anna und Marie aber auch oft geärgert. Das Lied "Anna to Sanna stah op und böt Füer" und "Marie, Marie Maruschka, sie war die ganze Nacht nicht da" konnte die Beiden auf die Palme bringen.
An der Schiffbrücke sah es damals etwas anders aus als jetzt. Durch den Beruf meines Vaters (er war Seemann) kammen natürlich sehr viele Seeleute in unsere Gastwirtschaft. Von den kleinen Schiffern, die an der Brücke lagen und bei uns meistens zu Mittag und Abend aßen, sind mir einige noch in guter Erinnerung.
Seinen richtigen Namen weiß ich nicht mehr, aber wir nannten ihn immer "Fritz Käs". Er war von der Hohewachtund verkaufte im Frühling, Sommer und Herbst - jahrein und jahraus - seien Käse für 16 Pfenning das Pfund.Einmal kam ein hoher Marineoffizier. Er fragte Fritz Käs "ob der Käse auch gegessen werden könnte". Darauf erwiderte der Gefragte "Min Herr, as ick in Kiel leg, hett sogar unser Prinz Heinrich mi en Käs afköfft". "Na" sagte der Offizier "wenn Prinz Heinrich diesen Käse essen kann , dann kann ich es auch. Hier habe Sie Geld und schicken sie den Käse nach der Moltkestraße, dort weiß jedes Kind wo der Kommandant der S.M.S. Blücher wohnt".
Neben diesem "Fritz Käs" lagen vom frühen Sommer bis spät in den Herbst hinein die bekannten "Apfelschiffer". Es waren Bendixen, Tönnesen und Petersen aus Langballigau, die hier ihre Pflaumen, Birnen und Äpfel verkauften. Es ging aber nicht Pfundweise, sondern Literweise.
An diese drei Apfelschiffer reihte sich dann noch auf einem beinahe koggenähnlichem Eichenschiff "Mudder Schacht" aus Vierlanden an. Sie lag aber im Sommer wie im Winter dort. Sie wohnete mit ihren Kindern auch auf dem alten Kahn. Ihre Spezialität waren Vierlandener Kirschen.
An "Mudder Schacht" nach Süden zu war dann bis zum alten Dampfschiffspavillon die Bootsvermietung von Bastiansen. Das war unser Revier.
Hier konnten Paul und ich nach Herzenslust rudern. Einmal bin ich ins Wasser gefallen. Als ich um Hilfe rief kam Paul von Nebenan, wo er bei Bastiansen, der zum Essen gegangen war, den Laden hüten musste, und holte mich heraus. Paul behauptet heute noch , dass er mich noch mal ordentlich untergedrückt hat (von wegen der Konkurenz).
Auf dem alten Dampfschiffspavillion regierte damals ein kleiner König "Fidde Bruhn". Viel geliebt aber ebensoviel gehasst und vor allen Dingen gefürchtet. Zu der Flensburg-Eggensunder-Dampfschiffs-Gesellschaft gehörten damals sehr viele Schiffe. Die kleinen Schwalben und Möwen fuhren nur nach Ostseebad und Kieleng. Der "Heinrich Adolf" fuhr auch bis Mürwik. An weitere Schiffe kann ich mich noch erinnern : Herta Balder, Ägier, Toor, Habicht und Expreß mit dem "Lütt Hein" als Kapitän hatte die Tour Flensburg-Lübeck. Dann waren noch die Schiffe Albatros, Phönix, Alexandra, Feodora, Ernst-Günter. Der "Adler" mit Kapitän Gott wurde im Winter als Eisbrecher eingesetzt. Im Sommer dagegen war auf dem Adler jeden Montagabend ein großes Konzert der Militärkapelleder 86ten. Wenn schönes Wetter war, waren auch die Ruderbotte von Bastiansenrestlos vermietet. Die ruderten dann, geschmückt mit vkleien Lampions auf der Innenförde bei schöner Musik.
Der alte Dampfschiffspavillion war dann abgesperrt und man konnte nur gegen ein Eintrittsgeld den Adler oder die Restauration des Pavillons betreten.
Hier in dem Restaurant schaltete und waltete viele viele Jahre ein Fräulein Brodersen, von den Flensburgern aber nur "Tante Christine" genannt. Sie war bei allen Leuten gut gelitten. Tante Christine hatte keine Feinde, sie hatte vnur Freunde. Zu ihren ständigen Kunden gehörten auch die Fähnriche und Offiziere der Marineschule Mürwik, die aber leider oftmals ihre Zeche nicht bezahlten. Sie soll damals auch zu einem Kaisersohn, ich glaube es war Prinz Eitel-Friedrich gesagt haben, er "möchte doch seiem Vater sagen, dass er den Mariesoldaten mehr Geld geben möchte, denn die könnten kaum mal eine Tasse Kaffee bezahlen und sie (Tante Christine) müssten es dann immer anschreiben".
Damals kam auch oftmals ein großer Reisedampfer nach Flensburg. Wir hatten ja auch eine Reismühle, wo die Ladung geschält und gereinigt wurde. Wenn diese Reisdampfer nun hier festgemacht hatten, dann sah man Menschen aller Rassen und Farben in unserer Stadt. Meine Mutter bekam mal von einem Steuermann dieser Reisdampfer einen Affen geschenkt. Wir nannten ihn "Mungi" und er war einige Jahre unser Sielkamerad. Der kleine Mungi wurde aber durch das Ärgern der großen Jungens so wild und zornig, dass wir ihn nicht mehr halten konnten. Mungi kam nach der Marineschule, ist aber dort nach einigen Monaten eingegangen.
Die große Explosion der S.M.S. Blücher im November 1907 ist mir noch in guter Erinnerung.. Das große Denkmal auf dem Mühlenfriedhof mahnt und erinnert heute noch viele Flensburger und auch Überlebende des Schiffes an das große Unglück. Tote und Verwundete wurden damals mit Barkassen an die sogenannte Pinassbrücke gebracht, wo sie in Kranken- und Totenwagen umgeladen wurden.
Es war wohl 1904 als ich zum ersten Mal einen Wagen ohne Pferde sah. Es war Adreas Bjering der dieses Automobil in Flensburg spazieren fuhr. Der offene Wagen fuhr auf hochstelzigen Speichenrädern. Hinten im Wagen saßen zwei Damen, die ein kleines Hütchen auf dem Kopf hatten. Dieser Hut wurde von einem Schleier, deren Enden ordentlich im Winde flatterten, gehalten.
Ein ganz besonderes Fest für uns Kinder war Kaiserins Geburtstag im Oktober. Bei der großen Wachablösung vor dem Hause seiner Exelenz auf dem Hafendamm durften wir nicht fehlen. Zwischen Hafendamm und dem damaligen Kieler Bahnhof war eine ca. 1 ½ Meter hohe Mauer, die oben ganz flach war und uns die beste Sitzgelegenheit bot. Die Kaiserin Auguste Viktoria kam jedes Jahr nach Glücksburg zu ihrer Schwester. Sie kam natürlich im Sonderwagen und musste dann auf einem Nebengleis in einen Sonderwagen der Kleinbahn umsteigen. Wenn wir Kinder dann stundenlang auf der Schweinerampe auf diesen Augenblick gewartet hatten wurden wir mit einem freunlichen Lächeln und Winken von der Kaiserin belohnt.
Es sind mir auch noch einige Flensburger Originale in guter Erinnerung. Da war Hein Pattburg. Er hatte es immer sehr eilig und darum wurde er auch der "Schnellläufer" genannt. Auf sportlichen Veranstaltungen, die damals meistens auf dem Schützenhof abgehalten wurde, fehlte er nie. Auch bei Umzügen ging Hein Pattburg mit wehender Fahne voran.
"Philip mit de Nack" hatte ein kleines Pferdefuhrwerk. Er handelte meistens mit gelben Wurzeln . Mit der einen Hand führte er die Leine des Pferdes und in der anderen Hand hatte er einen Handstock und mit der Krücke kratze er sich ständig seinen Nacken, der immer dick geschwollen war.
Dann war da noch der "Schwatte Jakob". Er wurde später auf Kosten der Stadt einmal in der Woche auf der Feuerwache abgeschrupt.
Und einer noch, der mir in Erinnerung blieb, "Wilhelm Radis". Er kam noch, als ich verheiratet war, jeden Sonntagmorgen und holte sich seinen Groschen bei mir ab.
Wilhelm Aal war auch noch da. Es mögen wohl noch mehr gewesen sein, aber die Vorstehenden waren die Berühmtesten.
Mir ist auch noch ein alter Mann in Erinnerung, der Fischer von Beruf war. Er hatte eine furchtbar große bis über den Hals herabhängende Backe. Vater sagte immer, die Backe hat er verkauft. Was es aber mit dem Verkaufen auf sich hatte konnte ich damals nicht begreifen. Sie ist nach seinem Tode von einem Kieler Professor geöffnet worden.
Es gab aber noch einen Mann, an den ich viel denken muss, das war unser Schuster Hansen aus der Marienstraße. Er war ein großer starker Mann, der immer seine grüne Schürze spazieren führte. Wir Kinder mussten das reparaturbedürftige Schuhzeug zu ihm bringen und abholen. Es war aber so schmutzig in seiner Wohnung und Werkstatt, dass wir uns ekelten dorthin zu gehen. "Aber seine Sohlen sind gut und haltbar", sagte unsere Mutter. Später, wir wohnten schon nicht mehr auf der Schiffbrücke, kam es dann raus. Er hatte das Sohlenleder in seinem Spucknapf zum weichen gelegt.
Anfang Februar 1905 wurde unser Bruder Paul ganz allein in der Marienkirche von Probst Niese konfirmiert. Er müsste mit einem kleinen dänischen Schoner seine letzte Reise als Schiffsjunge nach Schweden machen. Damit begann für ihn seine über 40 Jahre dauernde seemännische Laufbahn.
Magda und ich waren nun allein zu Hause und wenn Paul uns nachher aus aller Herrenländer Briefe und Karten schrieb, dann kam bei unserem Vater auch die Erinnerung an seine Seefahrtsjahre. Er hat uns oft seinen sogenannten Teereisen erzählt. Auch im Bekanntenkreis oder wenn er mit anderen Seeleuten zusammen war, wurde ordentlich Seemannsgarn gesponnen. Paul fuhr bis zum Steuermannsexamen nur auf Segelschiffen.
Die Reise um Kap Horn hat er bis dahin sechs Mal gemacht. Wenn das Schiff auf dem Heimweg war, bekamen wir kurze Nachricht von der Reederei. Das Schiff ist im englischen Kanal gesichtet, und das war der Startschuss für unseren Vater. Er packte seine kleine Reisetasche und dann ging es ab nach Hamburg. Vierte Klasse für 3,60 DM. Es gab ja für so lange Segelschiffsreisen, die manchmal ein Jahr dauerten viel Geld und dieses Geld musste sichergestellt werden, denn dien Steuermannsschule kostete allerhand.
Die größte Sturmflut unseres Jahrhunderts war am 31. Dezember 1904. Ein Orkan aus Nordost trieb vom frühen Morgen dieses Tages das Wasser in die Innenförde und am Vormittag waren alle niedrig gelegenen Teile der Stadt unter Wasser. Bei und zu Hause wurden die gepolsterten Bänke in der Gaststube über zwei Tische gestellt und alles andere nach oben in Sicherheit gebracht. Esswaren und eine große Kanne voll Kaffee kam auch mit nach oben, denn wir mussten uns doch jedenfalls für 12 bis 24 Stunden in der ersten Etage einrichten. Bei all dieser Vorsorge stieg das Wasser immer zu. Am frühen Nachmittag stand das Wasser in der Gaststube siebzig Zentimeter hoch. Mit den Insassen der Ruderboote, die an unser Haus herangerudert kamen, konnten wir uns aus dem Fenster unterhalten. Wir Kinder kannten die große Gefahr damals noch nicht, ganz abgesehen von dem großen materiellen Schaden den so eine große Überschwemmung mit sich bringt. Am späten Nachmittag legte sich der Sturm etwas und damit sackte das Wasser auch allmählich ab. Als Sylvesterüberraschung musste nachts Gastzimmer, Wohnzimmer und Küche reingemacht werden. Oma und Marie mussten natürlich helfen, denn so ein Hochwasser hinterlässt viel Schmutz. In Sommers Hotel waren damals die ganzen Dielen hochgegangen. Ich weiß noch, als Herr Sommer meinen Eltern sein Leid klagte. Es war für ihn ein sehr großer Verlust.
1906 kam ich zur Schule. Ich kann erinnern, dass ich mehrere Male von der Schule vorzeitig nach Hause geholt wurde. Zwischen unserem Haus und I. R. A. Boisen war ein ca. 1 1/2 Meter breiter Gang. Dieser Gang endete an der Marienschule und war auf halben weg durch eine Pforte getrennt. Von unserem Halbdach wurde über diese Pforte eine Leiter gelegt und Magda und ich konnten trockenen Fußes bei Hochwasser von der Schule nach Hause kommen.
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